Gustav Kluge
Codex Delta
DISEGNO ungleich DISEGNO
§1
Einer Quelle entspringen beide, Zeichnen und Schreiben, sagt die asiatische Überlieferung.
Widerspiegelung und Vereinbarung widerstreiten einander nicht.
§2
Zeichnen und Malen trennen sich am Ursprung. Was sagt mehr über die Natur des
Entschwundenen: Die Farbspur oder die geritzte Linie?
§3
Es gibt Wandlungen der Motive im Netz der angewendeten Mittel, die die Gestalten weiter in die
Zweiheit von Erschütterungslinie und Pigment gesättigter Lache einschreiben.
§3
Zeichnet die Linie vor oder nach oder statt? Die Linie trennt, die Farbe schwingt, durch eine
bestimmte Mechanik erlangen beide die Fähigkeit zum Fassen.
§4
Zerlegt sich die Linie in Myriaden Punkte, zerfällt die Farbe in zahllose Pigmente.
Das Subjektil liegt zugrunde, es gibt einen planimetrischen Untergrund.
((Wieviele Zeichner können auf einer Nadelspitze tanzen und wie viele Maler mit einer
Nadelspitze malen?))
§5
Es gibt Einflüsterungen in den Fluss der Wahr- und Wirklichnehmung von der Zeichnung zum
Gemälde als leere fröhliche Fahrt vom Schwund in die Fülle und retour.
§6
Zeig mir das Zeigen, wenn du Striche entwertest und Flecken vergeudest im Wettstreit der
leuchtenden Körper.
§7
Die unbekannten Meisterwerke sind, weil sie sofort nach ihrer Entstehung vernichtet werden.
Sie schlagen ihre Zähne in die versickernden Erinnerungen der Betrachter, als der vom Ding
getroffenen und vom Zeichen begrabenen Subjekte.
§8
Maler Regeln und ihre Anwender erheben das abgemagerte Ausgehöhlte zur Seelennahrung.
§9
Die Köpfe sind austauschbar bis auf die gut gefüllten Augenhöhlen, die Porträts sind randvoll
Zufall, nur nicht die Schattenzonen zwischen Oberlippenfurche und Nasenhöhlen Eingang, die
Grenzlinien der fühl losen überschweren Körper sind klar zu ziehen bis auf die ausgesparte
Nabel Senke.
§10
In den Abspaltungen von der Schrift greifen Pinsel und Stift nicht immer und kaum je sofort das
Gemeinte in der schmeichelnden Umfahrung der Dinge, atmender Halbdinge und der Abtastung der
Intervalle zwischen ihnen.
§11
Die Füllungen der Einschlag Trichter am Rande der Wahrnehmung sind nicht austauschbar.
§12
Multiple Lineatur verliert das Trennende der Grenzlinien zu gesättigten Pigment Lagen und
niedergelegten Farblachen. Die Lineatur ist das Skelett des Farbkörpers.
Am Grund der Linie liegt die Trennungsschärfe und die Teilungskraft
§13
Ist sie eine Schimäre oder hat die Einbildungskraft eine Greifhand und wie kommt Kraft in das
Bild?
§14
Das neu erwachte Bilderverbot trägt Flecken im Staubnebel: Schau den blinden Spiegel!
§15
Die Natur, das Geld, die Körper, das ICH, die Zahl – das Zeichnen hat Gegenstände.
Zirkulieren die Bilder wie Waren und Geld, zirkuliert die Zeichnung in sich.
§16
Die neue Ikonographie muss warten.
§17
Der Wettstreit verkehrt die Axiome: Figut ist ungleich Figur, Linie ungleich Linie, Farbe ist nicht
Farbe. Sie bilden den Magneten, der ferne Gedanken und Auren heranzieht.
17.2.16 – 8.1 19 / 5.5.20
Gustav Kluge
Urerde in Erwartung der Kollision, Vorzeichnung Druckstock, 2020, 65 x 85 cm