Günther Gercken
Der Mühlstein des Malens

 

Auf die Fragwürdigkeit des Bildes und die Problematik des Bildermachens gibt Gustav Kluge mit D.I.S.P.U.T. (1988) eine bildnerische Antwort. Das dreiteilige Bildobjekt aus zwei seitlichen Leinwänden mit den Titeln Begrabene Augen und Artauds Argumente und einer Holzbohlen-Mitte beschwört eine fiktive Auseinandersetzung zwischen Savonarola und Antonin Artaud. Die in den Holzstock geschnittene Zeichnung ist durch dicke Bretter überdeckt, so daß das zentrale Bild, über das der Bilderstreit geführt wird, verborgen und damit für immer ein Geheimnis bleibt. Der Disput, der die beiden Märtyrer über die Jahrhunderte hinweg verbindet, handelt von der Zerstörung der Bilder auf der einen Seite und auf der anderen von der Zerstörung des Künstlers. Während Savonarola in den Verbrennungen der Eitelkeiten auch Bilder verbrennen ließ, forderte Artaud, daß sich der Künstler selbst wie van Gogh in den Bildern verbrennt. Die Haltung Savonarolas, der die Malerei nicht grundsätzlich verdammte, aber von ihr erwartete, daß sie „das Licht Gottes und die wahre Andacht” nicht zerstöre, wird auf der linken Tafel durch zwei riesige, unter den Farbmassen vergrabene Augäpfel symbolisiert, die im Dunkel der Erde zu leuchten scheinen. Die Strahlen strukturieren die Farbmaterie und durchbrechen diese in zwei hellen Spalten. Indem wir das Bild betrachten, scheint unser Blick erwidert zu werden durch eine andere Art des Sehens, das auf uns gerichtet ist. Diese begrabenen Augen empfangen nicht das Licht, sondern sie senden die Bilder aus. Läßt man sich auf das Wechselspiel des ungleichen Sehens zwischen Betrachter und Bild ein, so wird man hineingezogen in den Strudel der Fragen nach der Wirklichkeit der Bilder. Das Paradoxe der Bilderfindung Kluges besteht darin, das Bild durch das Bild aufzuheben, indem dem visuellen Wahrnehmen das visionäre Schauen entgegengesetzt wird, das der irdischen Bilder nicht bedarf. Savonarola konnte mit der Gewißheit Hiobs sagen: „Und nachdem diese meine Haut zerschlagen ist, werde ich ohne mein Fleisch Gott sehen.”

Auf dem rechten Seitenflügel liegt Antonin Artaud, torquiert in der Haltung des Leidenden, und stößt sich, wie durch eine Photographie belegt ist, einen Bleistift fest in den Rücken, so als ob er schmerzhaft durch seinen Körper hindurch zeichnete. Für ihn bedeutet Zeichnen, mit seiner ganzen Existenz in der Zeichnung aufzugehen, die als letzte Mitteilung eines Sterbenden testamentarischen Charakter besitzt. Zu der Frage nach dem Formalismus einer Kunst, die sich, genügsam in sich selbst, an Kunst orientiert, hat er sich entschieden geäußert: „Wenn es überhaupt etwas Infernalisches, wirklich Verruchtes in dieser Zeit gibt, so ist es das künstliche Haften an Formen, statt zu sein wie Verurteilte, die man verbrennt und die von ihrem Scheiterhaufen herab Zeichen machen.”¹ Dieser Satz wiederum stellt eine mystische Verbindung zu Savonarola her, unter dessen Galgen der Scheiterhaufen angezündet wurde.

Das Thema des Triptychons wird fortgeführt in dem Einzelbild von Savonarola (1989), dessen markantes Gesichtsprofil aus dem Gemälde von Fra Bartolomeo bekannt ist. Als Bekenner hebt er die Schwurhand, und mit der anderen Hand hält er sich in der Artaudschen Gebärde einen Bleistift in den Rücken. Die Farbbahnen formen sich um seinen Kopf zu einer Aureole, und ein horizontales Farbband geht von seinem Gesicht aus. Diese Gebärden- und Bildsprache machen deutlich, daß er seine Bilder nicht aus der äußeren Realität empfängt, sondern mit dem Stift im Rücken seine visionären Bilder aufzeichnet.

Gustav Kluge thematisiert in diesen beiden Bildern durch den Rekurs auf Savonarola und Artaud und deren entschiedene Haltung zur Kunst die schwierige Frage nach der Notwendigkeit oder Nutzlosigkeit der Bilder. Der Disput der imaginären Kontrahenten, könnte er nicht genauso gut oder besser in Worten geführt oder in einem philosophischen Diskurs reflektiert werden? Worin liegt das Besondere der bildlichen Darstellung? Als Maler kann Gustav Kluge den komplexen Sachverhalt in einem einzigen Bild veranschaulichen, das durch die extreme formale und inhaltliche Spannung seiner Seitenflügel auseinander zu streben scheint, aber doch durch die verborgene Mitte zusammengehalten wird. Das Triptychon, welches die Geschichte nicht erzählt, sondern vollständig in bildnerische Mittel der Malerei und des Holzstocks übersetzt, hält die gegensätzlichen Positionen in einer geheimnisvollen Schwebe vor Augen, so daß ein Andachtsbild entsteht, das sich nicht entschlüsseln läßt, auch wenn man den geistigen Hintergrund kennt. Erst indem es dem Künstler gelingt, für die gedankliche Tiefe eine nicht illustrative Bildform zu finden, gibt er den Beweis für die Berechtigung der Malerei.

Der Inhaltsreichtum der Malerei Gustav Kluges darf nicht dazu verleiten zu vergessen, daß das Motiv nur in seiner doppelten Bedeutung als Beweggrund und als Thema für das Bild entscheidend ist. Der Beweggrund: nach Artaud eine hilflose, stumme Gebärde als letzte Mitteilung. Und das Thema? „Das Thema ist unwichtig, ebenso der Gegenstand. Wichtig ist der Ausdruck, aber nicht der Ausdruck des Gegenstandes, sondern eines bestimmten Ideals des Künstlers, einer bestimmten Summe Menschlichkeit vermittels der Farben und der Linien” (Antonin Artaud).² Die Frage nach der Bedeutung der Motive für das Bild wird in Katarakt (1988/89) selbst Bildgegenstand. Welches Verhältnis besteht zwischen Motiv und Bild? Droht das Bild zu scheitern, wenn es nicht von den Motiven getragen wird? Wie aus einem Füllhorn, das ausgeschüttet wird, stürzen die Motive zahlreicher Klugescher Bilder in die Tiefe. Menschen in Embryonalhaltung wirbeln durcheinander, wie von zentrifugalen Kräften der Evolution bewegt. Auch das Klammer-Motiv und der Pyromane aus früheren Arbeiten sind erkennbar. Gleichzeitig nimmt das Bild die Tradition des Höllensturzes auf mit einer lichten oberen Welt und einer dunklen Unterwelt, in der die unvollkommenen Wesen, welche die Evolution hervorgebracht hat, auf dem Kopf entlang der Entwicklungslinie wandern. Der Absturz der Motive kann das Bild nicht mit in den Abgrund reißen, das vielmehr seine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber dem Gegenstand beweist, da es als Werk in der sinnlichen Erscheinung seiner Farben und Formen nach Artaud von dem Ausdruck der Weltanschauung des Künstlers bestimmt ist.

Gustav Kluge demonstriert in seinen Bildern, daß die Malerei nicht nur inhaltlich sein kann, ohne ihre Bildqualität zu verlieren, sondern daß sie darüber hinaus dem Inhalt eine neue Dimension geben kann, die am ehesten als Beschwörungskraft zu beschreiben ist. Durch sie erhält das Bild – sowohl in der Malerei als auch im Holzdruck – einen fetischhaften Charakter, von dem magische Kräfte ausgehen. Das Bild wendet die Gefahr ab, indem es diese beschwört. Der Mensch projiziert seine Ängste in das Bild hinein und wird, wenn das Bild die notwendige Kraft hat, die es zum Bilde macht, von ihnen befreit.

Wenden wir nun das Zitat von Artaud von dem „Ideal des Künstlers, einer bestimmten Summe Menschlichkeit” auf Gustav Kluge an, so ist bemerkenswert, daß ihn in seinen Bildern der Schöpfungszusammenhang der Evolution, das Miteinander der verschiedenen Wesen und das Untereinander der Menschen beschäftigt. Bei diesen Themen richtet sich sein Augenmerk besonders auf die Abweichungen von der Norm (oder was als Norm angesehen wird), die Entartungen, im Körperlichen wie im Geistigen. Dem Siegeslauf der Evolution, wie ein Bildtitel lautet, hält er entgegen den unermeßlichen Berg an Leiden und Untergängen, den er auf seiner Bahn hinterlassen hat. Der Mensch an der Spitze dieser Entwicklung ist bedroht durch äußere und innerpsychische Kräfte. Auch hier ergreift der Künstler Partei für die Außenseiter und „Untergeher”, die Exzentriker, die außerhalb der Mitte ihr eigenes Kräftefeld haben. Hervorzuheben sind nicht nur Bilder wie Opfertausch (1988), das ein Ritual im Wodu-Kult darstellt, in dem menschliche Eigenschaften auf ein Tier und tierische Eigenschaften auf den Menschen übergehen, so daß anstelle des Menschen der Mensch im Tier geopfert werden kann, sondern auch Bilder, die eindeutig zu politischen Ereignissen unserer Zeit Stellung nehmen wie Stammheimer Duett (1984), das dem Tod von Gudrun Ensslin und Andreas Bader ein unerbetenes und grausiges Denkmal setzt, wobei die formale Bilderfindung eine solche identifikatorische Anteilnahme zeigt, daß mich das Bild an die Motivaneignung von Marats Tod durch Edvard Munch erinnert.

Die malerischen Mittel, die Gustav Kluge für seine Bilder einsetzt, vermeiden eine äußerliche Perfektion des Gegenständlichen. Der Ursprünglichkeit des Anliegens entspricht die Rohheit der Materialien, aus denen sich nachvollziehbar und quälend die Bildmotive herausschälen. Mit Nachdruck und Askese widersetzt sich die Malerei und die Bearbeitung der Holzstöcke einer glatten Ästhetik und stellt sich auch damit gegen die Schönfärberei einer scheinbar heilen Welt.

Artaud schrieb über van Gogh: „Eines Tages packte es ihn, und er entschloß sich das Motiv nicht zu übertreffen, wenn man jedoch van Gogh gesehen hat, kann man nicht mehr glauben, daß es etwas Unübertreffbareres gäbe als das Motiv.”³ Artaud bezeichnet hiermit das künstlerische Ereignis, durch das Nichtübertreffen das Unübertreffbare zu schaffen. Das Nichtübertreffen besteht nun darin, beim Malen nicht über die Mittel der Malerei hinauszugehen. Der Ideengehalt der Bilder Gustav Kluges birgt in sich die Gefahr, das Motiv zu überschreiten, oder anders ausgedrückt, Kluge operiert mit seiner Malerei in der Grenzzone zwischen reinem Bild und gedanklichem Bild. Man spürt das Ringen um die Bildform, welche die Gegensätze vereinigt, und wenn es gelingt, mit der Form die Einheit herzustellen, so bleibt diese doch zum Zerreißen gespannt.

In den Bildern van Goghs erkannte Artaud den „Mühlstein des Malens”, den der Maler am Hals trug. Diese ausdrucksvolle Metapher beleuchtet nicht nur die Qual der künstlerischen Arbeit, sondern auch das eigentliche Motiv, nicht anders zu können als zu malen. Der Mühlstein des Malens ließe sich auch als das Zermahlen deuten, das aus dem Korn der Ideen die Bilder freisetzt, in denen das Motiv durch die Transformation vollständig in der Bildsprache aufgegangen ist.

 

Anmerkungen
¹ Antonin Artaud, Das Theater und sein Double. S. Fischer Verlag, Frankfurt 1976, S. 15
² Antonin Artaud, in Paule Thévenin und Jaques Derrida, Antonin Artaud, Zeichnungen und
Portraits. Schirmer/Mosel, München 1986, S. 10
³ Antonin Artaud, Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft. Matthes & Seitz Verlag,
München 1977, S. 41


D.I.S.P.U.T., 1988