Hans-Werner Schmidt
Doppelungen – Dualität mit Eigensinn

 

Im Jahr 2000 ist das von Günther Gercken bearbeitete Werkverzeichnis der Holzdrucke von Gustav Kluge erschie­nen. Das Verzeichnis stellt an den Anfang Die Nachtschwester von 1984 und endet mit der Nummer CLXXXIV Wehe­ – Der achte Zyklus IX aus dem Jahr 2000. Das heißt, dass in 16 Jahren ein umfangreiches, beeindruckendes Werk eines Künstlers entstanden ist, der bis dahin vorrangig im Feld der Malerei verortet wurde.

Das Vorwort zu jenem Werkverzeichnis enthält konzise Feststellungen, die, Auszügen aus einem lexikalischen Bei­trag gleichend, den folgenden Ausführungen die Grundlage bieten: ,,[Es] gibt […] wenige Künstler, die in der Kon­sequenz Kluges das Medium des Holzdrucks über seine Gattungsgrenzen hinweg ausloten und auf diese Weise mit einem Druckstock zu zahlreichen Varianten gelangen. Diese Serialität von Unikaten macht das Werkverzeichnis zu einem schwierigen, spannenden und wertvollen Unternehmen, das es gestattet, den Entstehungs- und Transfor­mationsprozess einer Idee und der mit ihr verbundenen Aussage nachzuvollziehen.”¹ Und weiter heißt es: “Was er bei der Ölfarbe aufträgt, das schneidet er im Holzdruck heraus: Die Druckplatten bearbeitet er zum Teil akribisch­ausführlich, so daß eine eigene Textur entsteht, die mit hell-dunkel Effekten arbeitet und Grenzen auflöst. Jedoch finden sich auch Druckstöcke, die – selber schon roh in ihrer materiellen Existenz – drastische Spuren von Bearbei­tung aufweisen. Die eingekerbten, eingeschnittenen, ausgehöhlten Bretter sind Objekte aus eigenem Recht, der Skulptur gleich nah wie dem Relief. Und doch sind sie unvollständig ohne ihren Abdruck.”²

Intention und Arbeitsweise des Künstlers sind hier sehr trefflich beschrieben, doch muss die letzte Aussage nach der neueren Werkentwicklung korrigiert werden. Das nun vorliegende Werkverzeichnis der Druckstöcke ergänzt das Werkverzeichnis der Holzdrucke und macht mehr als deutlich, dass ausgewählten Druckstöcken – vor allem nach 2000 entstandenen – ein nachdrücklicher Werkcharakter zukommt, sie also mehr sind als ein bloßes Arbeits­mittel zur Erstellung der Holzdrucke. Sie bilden eine eigene Werkgruppe und stehen dabei in einem engen ver­wandtschaftlichen Verhältnis auch zur Malerei von Gustav Kluge – bis hin zu seiner Praxis der Performance. Um dies auszuloten, unternehme ich zuvor eine Exkursion in die 60er-Jahre, in die Schulzeit von Gustav Kluge – ohne dem Ansatz zu huldigen, dass frühe Kunsterlebnisse gleich einem nicht verhallenden Echo prägend und maßstab­setzend für das kommende eigene Werkschaffen seien. Wäre dies so, hätten wir es vermutlich mit einer großen Zahl von Dali-Adepten zu tun. Doch hier scheint mir ein Sovielmehr an frühem Anregungspotenzial vorzuliegen, als dass man es an den Fußnotenbereich delegieren könnte. 1963 verbringt der Schüler Kluge mit seinen Eltern einen Urlaub an der Bergstraße. Im nahen Darmstadt – in den 50er-Jahren ist dieser Ort Schauplatz weit über die Region hinaus wirkender kulturphilosophischer Gespräche – findet die Ausstellung Zeugnisse der Angst in der Modernen Kunst statt. Für Kluge ist der sehr viel später erworbene Katalog mehr als ein Stück Erinnerung.³ Heute erscheint er gar wie ein Resonanzraum zum eigenen Werk. Im Vorwort verweist Hans Gerhard Evers auf das gleichzeitig stattfindende achte „Darmstädter Gespräch” unter dem Titel Angst und Hoffnung. Evers hat Zweifel daran, ob die christliche Ikonografie – die Apokalyptischen Reiter, die Schalen des Zorns, fallende Sterne und ähnliche Zei­chen für das drohende Unheil – auch von denen verstanden würden, die nicht im Geiste des Christentums erzogen sind. Und an dieses Bedenken knüpft er die Frage an, ob und, wenn ja, welche Mittel den Werken der bildenden Kunst gegeben seien, um dem Publikum ein Kommunikationsangebot zu machen: ,,Das Einflüsternde des Materi­als, die Werte der Farbe, das Provozierende der Gestik, die Empfindungsanalogien, das quälende Zusammenspan­nen von Widersprüchlichkeiten, können sie formal so gesetzt werden, dass unweigerlich die Antwort ist: Angst oder Nichtangst?”⁴

Auch für Kluge bietet die christliche Ikonografie keine Grundierung mehr für das Bildgeschehen, während Mate­rial und Farbe bei ihm als Bedeutungsträger fungieren und „das quälende Zusammenspannen von Widersprüch­lichkeiten” wie die Quintessenz einer übergeordneten Regieanweisung von ihm wirkt. Ein weiterer früher Verweis auf Kluges Neigung, Kunst als Feld der Befragung zu erkunden, soll hier nicht unerwähnt bleiben – eine Erfahrung, die auch in das „Drehbuch Kluge” eingegangen sein könnte.⁵

Gustav Kluge arbeitet als Schülerzeitungsredakteur für die Flugblattzeitschrift „517“, die den Schwerpunkt auf Literatur, Kunst und Theater legt und an fünf Gymnasien in Hannover vertrieben wird. Anlässlich seiner Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft reist der damals 83-jährige Marcel Duchamp nach Hannover und lässt sich von Gustav Kluge (zusammen mit Manfred Korth) interviewen. Die Fragen kreisen um Schwitters, Dada, Kubismus, Surrealis­mus und Pop Art, wobei Duchamp ausführlich betont, dass er nie „eine bedeutende Rolle in einer dieser Bewegun­gen” – ,,an important figure in each movement” – gespielt und er in seinem Werk die Weichenstellung nie im Sinne einer Manifest-Formulierung betrieben habe. Kluge verfasst daraufhin noch einen weiteren Beitrag, in dem es um Duchamps Technikskepsis geht und die kritisierte Euphorie der Futuristen, in der Dynamik der Motorisierung und des großstädtischen Getriebes das entscheidende Zukunftspotenzial zu sehen. ,,Formal drückt Duchamp seine Zurückhaltung durch die matten Holzfarben seiner ,Aktmaschinen’ aus”, schreibt er und zitiert in diesem Zusam­menhang Duchamp direkt: ,,Ich habe den Akt mit Absicht auf die Farbe von Holz beschränkt, sodass die Frage nach der Malerei an sich ausgeschaltet ist. “⁶ Diese Begegnung mit Duchamp und die damals verfassten Texte bergen ein Gewicht, das weit über das Biografisch-Anekdotenhafte hinausreicht.⁷

1984 zeigt Gustav Kluge in der Produzentengalerie Hamburg die Ausstellung Drucke zur Gegenchronik, zwei Jahre später folgt in der Hamburger Kunsthalle Kluges erste Museumsausstellung. Sie zeigt vornehmlich Malerei unter dem Titel Das Zwillingsschema.⁸ Auf einer der ersten Doppelseiten des Kataloges begegnen uns zwei Män­ner, deren Körper – durch den Falz des Kataloges getrennt – Rücken an Rücken agieren, wobei der Aktivpart der rechten Figur zukommt, die rücklings über ihre Schultern greift und den anderen eben dort fasst. Die Dramatur­gie der Szene betreffend, lässt sich nicht eindeutig klären, ob es sich bei dieser Grifftechnik um Gewaltanwen­dung oder Hilfestellung handelt. Erst der Bildtitel gibt Aufschluss über den Stand der körperlichen Kommunika­tion: Abbruch der Beziehungen (1982). Die Körper wirken verschmolzen und doch getrennt, wozu die sicherlich nicht zufällige Gestaltung der Doppelseite beiträgt. Trotz unterschiedlicher Körpersprache hält sich der Eindruck der Spiegelung, die Vorstellung eines Klappmechanismus, der auf ein Bild ein weiteres Bild im Sinne eines Abdrucks folgen lässt, der sich allerdings in Eigenwilligkeit formiert.

Auf einer weiteren Doppelseite begegnen uns Frisch Operierte (1984), zwei Gestalten auf einem Lager, getrennt und doch einen gemeinsamen Körper bildend. Anstelle der Physiognomien erscheinen zwei dunkle ovale Flächen, die an das Bild eines Fingerabdruckes erinnern – eben der Nachweis unverwechselbarer Identitäten. Begegnet man eineiigen Zwillingen, erfolgt die Wahrnehmung in zwei Schritten. Anfangs gibt man sich dem Verblüffungs­moment anheim, einem Menschen in seiner doppelten Ausführung zu begegnen. Danach erfolgt der analysierende Blick, der Spuren von Differenz aufspürt als Nachweis von Biografien, die eben bei Zwillingen nicht gespiegelt ver­laufen und so Physiognomie, Habitus und Gestik mit Individualität anreichern, die dem Schema entgegensteht. Doch Kluge bleibt bei der radikalsten Form körperlicher Nähe. Die den Katalog abschließende Arbeit trägt den Titel Der 3883ste Versuch, siamesische Zwillinge elektrisch zu trennen (1984).

Kluge lässt nicht von der Dopplung, wie ein roter Faden zieht sie sich durch das Werk. Der Katalog Gustav Kluge⁹ der Galerie Haas & Fuchs von 2006 versammelt hierzu beredte Beispiele – von den Doppelköpfen bis hin zu eng aufeinander bezogenen Paaren. Kleine Köpfe, den Großphysiognomien beigegeben, auf der Stirn oder an der Schläfe aufscheinend, wirken wie Konterparts, die den verschatteten Physiognomien und in sich gekehrten Bli­cken gleich Geistesblitzen Leben einhauchen. Und dann begegnen wir Mr. Jekyll und Dr. Hyde in Personenschei­dung, wobei eine Gestalt die andere züchtigt. Der Züchtigende behält dabei seine Maske an, während die des Gezüchtigten vom Gesicht gleitet.¹⁰ Die Maske besitzt immer das Potenzial der Doppelgesichtigkeit. Sie ver­birgt die Züge. Sie ist das Gesicht der Scheu, der Abkehr von der unmittelbaren mimischen Kommunikation. In der Wahl des zweiten Gesichts artikuliert sich ein Verlangen nach einer von der Natur nicht gegebenen Aus­drucksphysiognomie. Während die Totenmaske eine plastische Spiegelung des Verstorbenen darstellt, einen Eins-zu-eins-Druck, transferiert in ein anderes Medium, ist die gestaltete Maske ein plastisches Psychogramm. Der körperliche Abdruck erscheint wie ein erstarrtes, stummes Echo, während der gestaltete „Abdruck” ein sich artikulierendes Seelenbild verkörpert. Auch die Abfolge der Abbildungen beim Berliner Katalog verrät die Regie des Künstlers. Hier sind es nicht siamesische Zwillinge, sondern ein Männerpaar mit dem Titel Good Guy/Bad Guy (2006), die den Ablauf der Bilder abschließen. Landläufigen Vorstellungen folgend, sehen wir in der über­mächtigen dunklen Gestalt den „Bad Guy”, der keine Regung zeigt angesichts der Zuwendung, ja Umarmung der deutlich schmächtigeren Person, die mit einem empathisch aufgeladenen Blick die Ansprache sucht – als „Good Guy”. Im Zueinander der Personen entsteht ein Bild, als sei die Macht des Bösen erstarrt in einem geschwärzten Urbild, während das Gute leichtfüßig und in beredter Körpersprache den Schulterschluss über ein bipolares Seelenscharnier praktiziert.

Die hier gemachten Ausführungen zum „Zwillingsschema”, zum „Doppelkopf” wie auch zur Doppelgestalt – es liegt zudem ein Katalog vor mit dem Titel Doppeltafeln¹¹ – repräsentieren eine Parallelgeschichte zum Werkpro­zess des Druckens. Bei diesem steht ein vom Künstler geschaffenes Bild zu seinem mechanischen Abbild in einem Scharnierverhältnis, wobei beiden durch den Künstler reichlich Spiel gegeben wird, um jeweils ein eigenes Bild entstehen zu lassen, das bei aller Eigenartikulation die visuellen Korrespondenzen deutlich in sich trägt.

Die Arbeit Baumschlaf [CVII; 107] steht für eine Doppelgestalt, die im Raum ihre jeweilige Ausrichtung aufweist und doch durch ein imaginäres Scharnier verbunden zu sein scheint. Aus einer Baumstammhälfte schlägt Kluge eine Figur, die auf ihrem Rücken den Druckstock trägt. Sie kommt mit dem Gesicht zum liegen, verborgen unter dem Holz, das als Bilderzeuger selbst ein Bild trägt. Es ist eine tiefdunkle Silhouette, die einen schwarzen Hauch von Körperlichkeit in sich birgt. In diesem sich materialisierenden Schatten erscheint ein kleiner Kopf, der ein Lebens­zeichen setzt und doch in der Dunkelzone zu ertrinken droht. Winklig zum Holzobjekt angeordnet, findet sich eine Gazebahn, die den Druck trägt – eben die Gestalt aus dem Schattenreich, wellenförmig dynamisiert durch unter­legte Rundhölzer. Der Druck erscheint so wie ein bewegtes Spiegelbild auf einer Wasseroberfläche. Die auch hier aufscheinende Physiognomie gleicht einem Ankerpunkt im Binnenfeld der fließenden Körperform. Der massive, voll plastisch ausgearbeitete Druckstock findet so zu seinem visuellen Echo auf einer semitransparenten Folie. Der „Baumschlaf” in seinem verschatteten Dasein gebiert sein Traumbild, das anstelle von Konsistenz eine fließende Bewegung setzt. Das Doppel Baumschlaf steht für eine Paarbeziehung, die jeweils sich in Eigensinn formiert, wobei das fluide Abbild im Hauch des Materiellen an das blockhaft lastende Bild gebunden bleibt. Dabei weist Baumschlaf in seiner skulpturalen Dimension schon ein Alleinstellungsmerkmal auf, denn Kluges Druckstöcke stammen meist aus anderen Funktionszusammenhängen, ohne dass ein dezidiert bildhauerischer Zugriff erfolgt.

Kluges Druckstöcke können sein: Holzelemente aus dem Bereich der Bautechnik, Verschalungen und Verklei­dungen, ausrangierte Türen, Dielen, die zusammengefügt Fußbodensegmente ergeben, mächtige Baumscheiben.

Und eben diese als Druckplatten eingesetzten Bildträger zeigen deutliche Spuren der ursprünglichen Nutzung, die Kluge nicht kaschiert. So gerät ein alter hölzerner Fußboden, entkerntes Segment aus einer historischen Bau­substanz, zum Speicher unzähliger Schritte und Abläufe, die mehr als einen Fußabdruck darstellen. Türen öffnen und schließen, verbergen in ihrer planen Abschottung Räume dahinter, die wir über unsere Fantasie in Bildern zu erschließen suchen. Eine Baumscheibe von mehr als einem Meter Durchmesser zeigt einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren in ringförmigen Lineaturen an, die vielleicht von Trockenheitsperioden und Wachstumsverzögerungen künden, aber stoisch der Historie die Zeugenschaft verweigern.

Sie alle finden zu ihren Abbildern im Vorgang des Druckens. Während Kluge bei den Druckstöcken poweres, vernutztes und sperriges Material bevorzugt, sind es bei den Druckpapieren vornehmlich filigrane Pergamine, die er aber bewusst nicht ihrer Beschaffenheit gemäß behandelt. Sie werden gefaltet und verklebt, Knickspuren erge­ben eine eigene Kartografie, Ränder werden angerissen – man könnte meinen, dass man es mit einer gehäuteten Schlangenhaut zu tun hat. Weitere, gesondert erstellte Druckpartien – wobei Hoch- und Tiefdruck nebeneinan­der stehen – werden collagenhaft addiert. Der Druck setzt sich so vom Urbild der Druckplatte in einer neuen Viel­stimmigkeit ab.

Dem steht der Druckstock nicht nach. Nach dem Druckvorgang wird er mit Schneideinstrumenten erneut bearbeitet: Tiefe Schnitte, bis hin zur Perforierung, führen zu einer Oberflächenmodellierung, die dem Werk­stück Reliefcharakter verleiht. Das Druckholz als Standobjekt, meist an die Wand gelehnt, tritt nun mit skulptura­lem Anspruch auf. Nicht selten finden Ergänzungen durch weitere Hölzer, die wie Fortsätze wirken, statt, worü­ber das gedruckte Nachbild aber keine Auskunft geben kann. Auch die Binnenzeichnung und das Kolorit werden überformt. Farbe kommt erneut zum Einsatz. Dem ursprünglichen Arbeitsvorgang des Einfärbens entsprechend bedient sich Kluge der Walze und nicht des Pinsels. Der Druckstock wird, unmittelbar im Holz oder im Zuge einer Applikation von verschiedenen Papieren, zudem als Druckfläche genutzt – ihm widerfährt also dasselbe, was er verursacht hat. Neben dem Hochdruck ist es auch hier wieder der Tiefdruck. Die Kausalität von Druckstock und Druckerzeugnis erlangt über diese Arbeitsschritte eine reziproke Offenheit: Das Verhältnis von Ursache und Wir­kung wird auf einer dem Druckvorgang nachfolgenden Arbeitsebene überwunden. Druckstock und Druck begeg­nen sich infolgedessen wie entfernte Verwandte. Erzeugendes und Erzeugtes bleiben verbunden und kommunizie­ren in ihrer sich entwickelnden Eigenart. Mich beschleicht die Anmutung – ohne familientherapeutisch dilettieren zu wollen-, dass Kinder sich von ihren Eltern emanzipieren, die Eltern aber auch das Recht haben, sich von ihren Kindern zu emanzipieren. Und eine weitere Assoziation beim Vergleich von Druckstock und gedrucktem Papier: Die Hölzer in ihrer verkrusteten Oberfläche wirken wie eine schuppige Haut, wie der Panzer eines Reptils, wäh­rend die Drucke, gerade wenn Pergamin zum Einsatz kommt, Flügeln eines Schmetterlings gleichen. Oder auch: Der Druckvorgang wirkt wie ein Transfer von „Hardware” in „Software”.

Obwohl die Pergamine in der Handhabung empfindlich sind, fasst sie Kluge, wie erwähnt, nicht mit Samthandschu­hen an. Auf dem groben Atelierboden ausgerollt, oft gestaucht und vor Rissen nicht gefeit, erscheinen sie wie von Blessuren übersät, wie geborgenes, geschundenes Gut – und eben diese Bilder der Verletzungen sind das Schar­nier zu den Druckstöcken, deren Schwärze Brandspuren gleicht und die umrissenen Figuren wie verkohlt erschei­nen lässt.

Kluge folgt bei seinem Handanlegen an Druck und Druckstock nicht einer Vorstellung, die den druckgrafischen Vorgang mit dem der Geburt gleichsetzt, wobei der Erzeuger dem Druckvorgang wie einem Wunder beiwohnt und dem Drucker die Verantwortung des „Geburtshelfers” zukommt. ,,Ich liebe euch, ihr Grafiker, und teile eure Bewegung, wenn ihr – es ist noch ganz feucht, und ihr fasst es zart mit den Kuppen eurer Finger an – ein kleines Rechteck aus Papier, das gerade erst aus den Windeln der Presse kommt, ans Licht hebt. Dieser erste Abzug, dieses Neugeborene, dieses Kind eurer geduldigen Ungeduld (kann doch das Wesen des Künstlers nicht anders bestimmt werden als durch Widersprüchlichkeit) trägt jenes unendlich kleine Teilchen des Weltganzen, dieses Nichtige und doch Wesenhafte, das die ganze Fülle der Einsicht und des Wissens zur Voraussetzung hat.” – Dieser hochstilisierte Text, man wundert sich, erschien 1968 im Katalog Grafik International der Wiener Secession.¹²

Der Drucker als Geburtshelfer, den man sich bei diesen Zeilen nur im weißen Kittel vorstellen kann, in einer Werkstatt, die das Sortiment der Werkzeuge wie in einem Schaubild arrangiert, wird bei Kluge zum Fortgestalter, und sein Materialdepot hat wenig mit dem Labor der schwarzen Druckkünste gemein.

Ein Werktitel wie Schattenflüsterer (2017) [CC; 200] beschreibt die Kommunikation der Werke miteinander, vor allem zwischen Druckstock und Druck. Titel wie BlutIch und Nervenbaum (2007) [CXCVIII ; 198], Coincidentia oppositorum – Kreatives Feuer (2005) [CXCVI; 196], Double (2005), Zweite Haut (2001) [CLXXXVIII, 187; 188], Mutabor (2001) [CLXXXV; 185], Kegelspiegel (2008) [CXCIX; 199], GummiGummi-Mann + GummiGummi-Frau (1999) [CLXXIX; 179], Regenbogenpaar (1996) [CLX; 160], Teer und Feder (1995), Wiedergänger (1995) [CLVIII; 158], Kontakt zwischen zwei Populationen (1989) [C; 100] verweisen auf ein Bildkonzept, das Duplizität und Transfer über eine Zeitspanne von mehr als 30 Jahren als werkkonstituierend erscheinen lässt. Ich meine eine Entwicklung zu erkennen von den symbiotischen „siamesischen Zwillingen” hin zur konflikthaften Kontrastierung wie bei Mr. Jekyll und Dr. Hyde und schlussendlich der Aufhebung von Dualität bei Coincidentia oppositorum. Kluge kann man keine besondere Ambition, verbal mit Wortwitz zu glänzen, attestieren, seine Bilder(titel) sind aber sehr wohl sprechend.

Doch Kluge verweigert sich nicht der Sprache. 2009 realisierten Petra Kluge, Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier die Ausstellung Zelle im Fluchtweg.¹³ Petra Kluge hat dazu einen schonungslosen Text verfasst, der verschiedene Formen weiblicher Suchtstrukturen beschreibt. Der sprachliche Duktus steht für radikale Subjektivität. In der Stuttgarter Ausstellung nimmt sich Gustav Kluge den auf eine lange Textbahn niedergeschriebenen Text zur Hand und trägt ihn vor, das Papier zwischen den Fingerkuppen abrollend. Der Text, aus weiblicher Perspektive geschrieben, wird von einem Mann vorgetragen . Gustav Kluge rezitiert eindringlich, ohne dabei in einen pathetischen Tonfall zu verfallen. So erfährt der Text weiblichen Urspungs seine Transformation, seinen Abdruck, im Auftritt des Ehepartners und wird dem Publikum in einer Doppelgestalt vermittelt: als Papierbahn, die abgewickelt und in einem Glasbehälter mit venezianischer Tinte versenkt wird, und als gelesenes Wort. Der Text „verhallt” gleichermaßen visuell im Tintenbad wie akustisch im Raum. Im Katalog schreibt Margrit Brehm, die Performance mache deutlich, ,,dass nicht nur Rollen ,getauscht’ [werden], sondern durch die Agierenden jeweils auch eine, der eigenen künstlerischen Sprache entsprechende, Deutung gegeben wird.”¹⁴ Die Autorin ist dabei schweigende Zuhörerin, so wie traditionell der Druckstock als „Backstage” -Objekt von der Zirkulation und Rezeption der Drucke ausgeschlossen bleibt. Bei dieser Ausstellung belässt es Kluge nicht bei seinem Performance-Auftritt, hat er doch, so Brehm weiter, ,,für die Ausstellung ,Zelle im Fluchtweg’ Arbeiten aus drei Werkkomplexen ausgewählt, in denen Themen und Motive, die im Traktat von Petra Kluge, den Objekten von Kathrin Haaßengier und der gemeinsamen Performance anklingen, aufgegriffen, ,gespiegelt’ und unter einer anderen Perspektive betrachtet werden.”¹⁵ Kluge schuf für diese Ausstellung vier Druckstöcke: Kegelspiegel [199], BlutIch und Nervenbaum [198], Marter der Metalle [197] und Coincidentia oppositorum – Kreatives Feuer [196], wobei zwei der Motive dem alchemistischen Denkcorpus, dem Motiv der Verwandlung, entlehnt sind.

2016 stellten Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier noch einmal zusammen aus.¹⁶ Die Künstler arbeiteten mit dem Begriff „Paragone” – er bezeichnet den Wettstreit um die Hierarchien in den Künsten -, wobei in der bil­denden Kunst der Malerei das Primat zugesprochen und der Bildhauerei ein diskutabler zweiter Platz zugewiesen wird. Die Druckkünste haben bei diesem „Ranking” wegen des hohen handwerklich-mechanischen Anteils kein Mitspracherecht.

Arne Rautenberg betitelte seinen Beitrag zum Paragone-Katalog mit „Aufbruch in einen anderen Körper”. Mit diesen Worten lässt sich auch der Vorgang des Druckens bei Gustav Kluge fassen. Der Druckstock selbst, wie hier herausgestellt, unterliegt danach einer weiteren Transformation. Er koppelt sich von seinem Nachbild ab und führt fortan ein Eigenleben. Für Derartiges finden die „Paragone” -Richter in ihren Repetitorien zur Entscheidungs­findung über die Rangordnung der Künste keine Beurteilungskriterien.

Die lineare Darstellung der Ereignisse und Erscheinungen in großen historischen Zusammenfassungen huldigt gewöhnlich der strukturellen Dominanz historischer Gesetzmäßigkeiten, spricht damit Eigenwilligkeiten und ,,Sonderwegen” Erklärungspotenzial ab und blendet in Bezug auf die Läufte der Zeit deren Korrektur- und Rela­tivierungsdimension in Gestalt des Einmaligen und Besonderen aus. Für Kluge dagegen bleibt das Schema die Herausforderung, in ihm Identität herauszuschälen und zudem mit Eigensinn anzureichern, ohne den ästhetisch­genetischen Abdruck, das „Ur-Bild”, gänzlich zu überblenden. Denn Geschichte als in der Zeit sich enfaltende Gemeinschaft der Individualitäten scheint selbst in der größten Wandlung die Rückkehr zum Ursprung zu kennen, dann nämlich, wenn sie – die Geschichte – im Mythos aufgehoben wird.

So kam denn auch dem Abenteurer Jason, als er auf der Suche nach dem Goldenen Vlies in entfernter Region, am Rande der bekannten Welt, durch einen Wald streifte, laut Anna Seghers folgender Gedanke: ,,Was für ein son­derbarer Brauch, dachte Jason, wenn er an einem Baum vorbei kam, der mit den Ästen einzelne Stücke eines ver­witterten Fahrzeuges umklammert hielt. Was meine Landsleute doch für Einfälle hatten! Ein besonders mächti­ger Baum trug ein Stück Schiffsrumpf mitsamt der verwitterten Galionsfigur.”¹⁷

Im schwarzen Spiegel, Druckstock, Nut und Federbohlen, 2008, 197 x 310 cm

 


¹ Gustav Kluge. Werkverzeichnis der Holzdrucke 1984-2000, Günther Gercken (Hg.), Hamburg 2000, S. VIII. Das Vorwort wurde gemeinsam verfasst von Ulrich Ptak (Kunsthalle Rostock), Georg Reinhard (Städtisches Museum Leverkusen Schloss Morsbroich), Beate Thurow (Städtisches Kunstmuseum Spend haus Reutlingen), Kurt von Figura (Kunstverein Göttingen e. V.).
² Ebd.
³ Zeugnisse der Angst in der modernen Kunst, Ausst.-Kat. Mathildenhöhe Darmstadt, Darmstadt 1963. In Anbetracht eines heute sich ständig dynamisierenden Ausstellungsbetriebes, einem flankierenden und letztlich dominierenden Zusammenspiel von Kulturtourismus und Merchandising, gerät man ins Staunen, in einem kleinen Ausstellungsinstitut in der südhessischen Pro­vinz auf Bilder zu treffen wie Der Schrei von Edvard Munch, Die Nacht von Max Beckmann, das Kriegs-Triptychon von Otto Dix, Die Vorahnung des Bürgerkriegs von Salvador Dali und eine Reproduktion in Originalgröße von Pablo Picassos Guernica – alle zusammen in einer Ausstellung.
⁴ Ebd., S. 9. Im Juni 2018 hält Gustav Kluge im Rahmen des Symposions „Angst und Freiheit” an der Muthesius-Kunsthoch­schule Kiel den Vortrag „Spur der Angst in drei Stationen. 1963-2001-2011 “. Er hält fest, dass die Bilder von Munch, Beckmann, Dix und Dali für ihn überwältigend waren, ,, dennoch lösten viele der hier ausgestellten Bilder in mir keine Angstschwingungen aus”. Die Angst spürt Kluge eher bei dem dort gesehenen Bild The Sob von David Alfaro Siqueros: ,,In seinen monumentalen Volumina ist das dargestellte Individuum mit seinen ausdifferenzierten Empfindungen versteinert vor der Übermacht des Kollektivs.”
⁵ Als Beispiel für das „quälende Zusammenspannen” sei hier erwähnt das Triptychon D.I.S.P.U.T. (1988), das mit der Kon­frontation von Artaud und Savonarola einen fiktiven Disput zweier Extrempositionen von Kunst am Rande ihrer Möglichkeiten aufzeigt. Getrennt werden die durch Zeit und Raum gesonderten Kontrahenten durch einen Druckstock. Der Autor des Theaters der Grausamkeiten trifft so nur mittelbar auf den Prediger des göttlichen Strafgerichtes.
„517″, Flugblattzeitschrift für Literatur, Kunst & Theater an der Elsa-Brandström-Schule, Goetheschule, Ricarda-Huch-Schule, Schillerschule, Tellkampfschule, Hannover 1964, o. S.
⁷ Ebd. Mit Marcel Duchamp wird sich Gustav Kluge auch in einem späteren Text mit dem Titel „Der 3883ste Versuch das GROSSE GLAS zu verstehen” (2001) auseinandersetzen. Kluge analysiert hier den Doppelcharakter des Werkes als Glasbild und als Textgestalt in der „Grünen Schachtel”. Der Titel „Der 3883ste Versuch … ” korrespondiert mit dem Bildtitel Der 3883ste Ver­such, siamesische Zwillinge elektrisch zu trennen. Anzumerken ist hier, dass die Zahl 8 mittig in der Zahlenfolge wie gespiegelt erscheint und die Zahl 3 in scharnierhafter Doppelung die Zahl 8 ergibt.
Gustav Kluge. Das ZwillingsSchema, Reihe Standpunkte, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1984.
Gustav Kluge, Ausst.-Kat. Galerie Haas & Fuchs, Berlin 2006.
¹⁰ Kluge greift hier die Gestalt des Dr. Henry Jekyll auf aus dem Roman Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson (1886), wobei Kluge in seinem Bildtitel den akademischen Grad der Person zuweist, die sich zum Obsessiven bekennt. Dr. Jekyll ist ob seiner Tugendhaftigkeit ein angesehenes Mitglied der Viktorianischen Gesellschaft. Doch die unterdrückte Lebenslust formiert in seinem Wesen eine alternative Gestalt, die des Mr. Hyde. Triebgesteuert entwickelt sich diese zum sadistischen Psychopathen, der selbst vor Mord nicht zurückschreckt. Die Doppelgestalt Jekyll/Hyde steht Pate für Sigmund Freuds psycho­analytische Untersuchungen und sein psychisches Strukturmodell von Es, Ich und Über-Ich. Im Fall von Hyde ist das Über-Ich ausgeblendet, und das Es beherrscht die Persönlichkeit. C. G. Jung bezieht sich explizit auf die Roman-Doppelfigur, die in sich zwei „Archetypen” vereinigt: die Person und ihren Schatten – ihren verzerrten Abdruck. Kluge bezieht sich in seinem Gemälde auf einen Filmstill aus Dr. Jeckyll und Mr. Hyde von John S. Robertson mit dem Schauspieler John Barrymore als Mr. Hyde aus dem Jahr 1920. Bei dieser Szene schlägt John Barrymore alias Mr. Hyde einen Freund von Dr. Jekyll zu Boden. Kluge übersetzt die Schwarz-Weiß-Vorlage in grelle Farben, wobei die Gesichter des Schlägers und des Geschlagenen in Schwarz-Weiß belas­sen werden, wodurch der maskenhafte Eindruck entsteht. Kluge hat hierfür die Szene aus dem Film in seinem Atelier mit Akt­modellen nachgestellt.

In dem Katalog Team Portrait Moabit. Gustav Kluge, Galerie Wohnmaschine 2005, ist ein Beitrag in Form eines Briefes ent­halten. Sepp Graessner schreibt an Gustav Kluge. Er erläutert die Formen der Folter in einer historischen Skizze, wobei die Fol­teropfer Straftäter, Nonkonformisten, politische Gegner, Patienten etc. sein können. Zum Thema „Maske” heißt es dort, dass in früheren Jahrhunderten die Folterknechte Masken trugen, um unerkannt zu bleiben. Heute werden den Folteropfern Kapu­zen verabreicht, um die Physiognomie des Schmerzes zu verbergen.
¹¹ Gustav Kluge. Doppeltafeln, Ausst.-Kat. Produzentengalerie Hamburg, 2014.
¹² Wiener Secession – Grafik International, Ausst.-Kat., K. Sotriffer (Hg.), Wien 1968; zit. n. Walter Koschatzky, Die Kunst der Graphik, München 1975, S. 35.
¹³ Zelle im Fluchtweg. Petra Kluge, Gustav Kluge, Kathrin Haaßengier, Ausst.-Kat. Hospitalhof Stuttgart und Galerie Beyer Dresden, Stuttgart und Dresden 2009.
¹⁴ Margrit Brehm, ,,Grenzüberschreitungen von außen nach innen nach außen”, in: ebd., S. 25-30, hier S. 27.
¹⁵ Ebd., S. 28.
¹⁶ Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier PP, Paragone, Ausst.-Kat. Galerie in der Stadtscheune, Otterndorf 2016.
¹⁷ Anna Seghers, ,,Das Argonautenschiff”, in: Erfundene Wahrheit. Deutsche Geschichten seit 1945, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, München 1965, S. 177-191, hier S. 187.