Werner Hoffmann
Schmerzknoten
Gustav Kluges »Gegenchronik« ist Gegenwelt. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine chronique scandaleuse. Das Bezugsfeld, dem sie Gegenrede, Gegenpol ist, sind die Produkte der Selbstbedienungsläden, genannt Medien: Fernsehen, Funk, Presse. Von bebenden Federn und ebensolchen Zungen zubereitet, findet dort der Konsument, was ihm kulinarisch bekömmlich ist: Gleitkost, wohlverpackt in Redseligkeit, den ältesten Kunstgriff des Verschleierns und Verschweigens. Man liest, die gegenwärtige Bundesregierung habe die Politik von ideologischen Anstrengungen entlastet, darauf gründe ihre relative Erträglichkeit. Ist tatsächlich nichts beruhigender als das Mittelmaß, das sich zur Norm erhebt? Ist Selbstzufriedenheit so ansteckend? Es hat den Anschein, als gäbe es heute, auf die bundesdeutsche Szene bezogen, nur die beiden Extreme: die Charaktermasken auf der einen Seite, die sich biedermännisch der Entlastung von Erinnerung und Gewissen widmen, und in der trotzigen Gegenposition die asketische Gemeinde der Trauerarbeiter, die auf die Last der Schuld die Last des Abtragens legen.
Was Kluge zu sagen hat, sagt er seinem Gesprächspartner mit langsamer Zunge, zögernd und doch bestimmt. Diese stockende Entschlossenheit ist auch in seinen Arbeiten, am eindringlichsten in der »Gegenchronik«. Jede dieser Gestalten ist aus einem Schmerzknoten (das Wort steht bei Celan) hervorgegangen und trägt fortzeugende Schmerzknoten in sich.
Die Qualen und Erniedrigungen, von denen hier berichtet wird, sind in die Arbeit am Holz eingegangen: jeder Strich ist ein Riß, eine ritzende und kratzende Verletzung des Materials. Was sich aus dem schürfenden Duktus des Messers herausschält, ist Bitterkeit und Verzweiflung. Auf den ersten Blick sind es Dialogsituationen, denen jedoch die Merkmale der Unterwerfung aufgeprägt sind. Verknotet, gerät der Schmerz zur dunklen Masse, manchmal von Licht umstrahlt und doch auch schon angesengt, dem Feuerfraß preisgegeben. Eine Welt der Mühsal, der Vergeblichkeit, sprachloses Ausgeliefertsein, zu Klumpen geronnen. Alle diese in das Hochformat gepreßten Gestalten sind miteinander verwachsen und zugleich selber verwachsen und verkrüppelt. Jede trägt an Verstümmelungen, welche die Angst hervorruft.
Dennoch wird hier »Trauerarbeit« nicht als die Beschwernis aufgefaßt, die der Masochist an ihr schätzt. Die Schmerzknoten überleben, weil sie rätselhafte Metamorphosen aus sich heraustreiben. Zwar ist die »Gegenchronik« ein Kreuzweg der mißbrauchten Kreatur, aber die Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und der Spott über deren Hohlformeln heben sich über die Verbissenheit hinaus in eine Zwischenwelt, wo alles Gleichnis ist. Dem nachdenklichen und belesenen Künstler, der Kluge ist, gerät der quälende Stoff zur Einsicht, daß sich diese Welt nur darstellen läßt, wenn die Tatsachen in den Rang von Metaphern gehoben werden. Diese Entrückung hat freilich auch ihren Preis: Glück und Elend, Leid und Strafe treten in die Dimension der Zeitlosigkeit ein. Das kann in die Schrumpfwelten des Märchens oder des Volksliedes führen, wo dann das bucklige Männlein seine List spielen läßt, aber auch in die Höllenvisionen des Emanuel Swedenborg, denen Kluge offenbar das sinnliche Wissen von der Leibhaftigkeit des Bösen verdankt — eine Einsicht, die er wie alles, was ihn an dieser Welt erregt, nicht zur These, nicht zum »Diskurs« herauspräpariert, sondern einschließt in die zähen Umrisse und in die langsamen Gebärden seiner Gestalten. So verschreibt der künstlerische Instinkt letztlich sein moralisches Engagement der Triebhaftigkeit.
Die vergleichende Erinnerung des Kunsthistorikers mag zu den großen Holzschnitten von Grieshaber zurückgehen. Noch wichtiger ist der Bezug zu Pankok und einem Künstler, den Kluge bislang nicht kannte: Wilhelm Laage. Von entscheidenden formalen Unterschieden abgesehen, die hier nicht dargelegt werden müssen, geht Kluge mit dem Material Holz anders um : direkter und aggressiver, aber auch bescheidener. Er greift zum dürftigen Brettermaterial und beläßt ihm seine Dürftigkeit. Zugleich aber entzieht er das Ergebnis der Konsequenz, die das Druckverfahren seit eh und je anbietet: Kluges »Gegenchronik« ist kein Auflagenobjekt, und auch von den anderen Holzschnitten stellt er nur wenige Exemplare her.
Da hat sich einer Bretter ans Land gezogen: Treibgut, Strandgut, mit dem er sich umstellt, eine Klagewand errichtet, eine Litanei, die immer wieder von neuem anhebt, im Rundgang betrachtet und bedacht werden will, weil sie — Parabel der Parabel — keinen Anfang und kein Ende hat. Der Gestaltungsakt und seine Strategie als Gleichnisse für Rückzug und Schutzbedürfnis? Ja, aber nur im Sinne der Enthaltsamkeit, auf die jeder gezielte Gegenzug angewiesen ist, der sich dem Verschleiß verweigert. Aber nicht Rückzug im Sinne der fröhlich privatisierenden Enthaltsamkeit, die Tieck in seiner Erzählung »Des Lebens überfluß« schildert, wo ein junges Paar, Mieter im ersten Stock eines Hauses, während eines harten Winters die nach unten führende Treppe zersägt und damit den Ofen heizt. So entsteht ein Refugium des Wohlbehagens, von dem man nicht Abschied nehmen möchte, gibt es doch noch überflüssige Türen, Dielen, die Bodenkammer und den Dachstuhl. Das Glück dieser Rückzugswelt wird zur biedermeierlichen Parabel der Ausweglosigkeit.
Als »Gegenchronik« könnte man sich die Erzählung von einem Künstler vorstellen, der seine Notdurft befriedigt, indem er aus dem hölzernen Inventar, das ihn umgibt, das Rohmaterial für seine Arbeit gewinnt. (Da er nichts anderes zur Hand hat, druckt er auf Zeitungspapier). Auch er produziert und reproduziert gleichsam seine Ausweglosigkeit, die er aber zugleich im Kunstwerk wieder aufhebt.